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Das waren die Innsbrucker Wochenendgespräche 2004:






Vergangenheit als erzählte Geschichte

Wann ein Ereignis Vergangenheit wird, lässt sich nicht (end)gültig feststellen. Unsere Vorstellung von Vergangenheit, von Geschichte, ist aber ein gegenwärtiges Phänomen, das von der jeweiligen Perspektive des Betrachters geprägt wird. Wie die Erinnerung ist unser Bild von der Vergangenheit nicht abgeschlossen, sondern einem Wandlungsprozess unterworfen, der unserem individuellen Bewußtseinszustand und Erfahrungshorizont entspricht.
Imre Kertész beschreibt im Nachwort zu seinem Roman Der Spurensucher seinen vergeblichen Versuch, der Vergangenheit wiederzubegegnen, als er an den Ettersberg, den Ort des Schreckens, zurückkehrte. “Ich verstand, wenn ich gegen mein vergängliches Ich und die ständige Wandelbarkeit der Schauplätze ankämpfen wollte, mußte ich mir, mich auf mein schöpferisches Gedächtnis verlassend, alles von neuem erschaffen.”
Das Vertrauen in das Fiktionale ist gerade bei den Augenzeugen unter den Autorinnen und Autoren stärker als das in die Erinnerung. Und die vorliegenden historischen Fakten müssen auch erst erzählend zum Leben erweckt werden: Schreiben über Vergangenheit als Neuerfinden der Wahrheit (J. Semprun).