Comics & Wissenschaft

Das Einundzwanzigste Jahrhundert wird das Jahrhundert des Bildes.

Jahrhundertelang bestimmte textbasierte Wissensvermittlung das Geschehen. Alles näher zu Behandelnde wurde ausformuliert, fertige Texte höchstens im Nachhinein illustriert. Einzig Bildalmanache (Zdenek Burian, Ernst Haeckel, Maria Sibylla Merian, George Forster etc.) schöpften visuell aus dem Vollen, erschöpften sich jedoch meist in reiner Aufzählung des Formen- und Farbenreichtums der Natur.

Doch nun übernimmt das Bild auch als Handlungsträger und Erzählmedium, nachdem es seine Möglichkeiten erkannt und sein Vokabular ausdifferenziert hat. Im Zwanzigsten Jahrhundert etablierte sich die Fotografie als Kunst- und Dokumentationsform und reifte technisch aus, im Zwanzigsten Jahrhundert lernten die Bilder im Film laufen, erschienen die ersten computergenerierten Darstellungen, im Zwanzigsten Jahrhundert entstand das Internet mit seinen bildlastigen Webseiten, im Zwanzigsten Jahrhundert entwickelte sich der Comic als Neunte Kunst.

Im Einundzwanzigsten Jahrhundert werden all diese Entwicklungen zu ihrer vollen Ausprägung und Symbiose kommen. Nicht nur in Unterhaltung oder Dokumentation, sondern auch in der Wissenschaft – im Erklären, Bündeln, Analysieren, Vergleichen oder Nachvollziehbarmachen wissenschaftlicher Erkenntnisse.

Wir sind visuelle Wesen – viele Eigenschaften unserer Welt sind visueller Natur oder mit einfachen Mitteln visuell darstellbar (Temperaturen, Klänge, Druckverhältnisse etc.), in sequentiellen Medien sogar in ihrer zeitlichen Abfolge. Warum nicht direkt zeigen, was sonst beschrieben, umschrieben werden muss.
Gerade in der Evolution, wo über Millionen Jahre wirkende Umwelteinflüsse ein Lebewesen formen, wo sexuelle Auslese besonders physiologische Merkmale verstärkt, wo Lebensräume erschlossen und wieder aufgegeben werden, wo Wanderungsbewegungen verdeutlicht werden sollen, wo neue Spezies entstehen und wieder aussterben, wo sich Stammbäume bilden und stetig weiterverästeln, ist die Darstellung und Verknüpfung relevanter Informationen mit visuellen Mitteln der direkteste und aufschlussreichste Weg.

Der Zeichnung als einer der ältesten, wenn nicht der ältesten künstlerischen Ausdrucksform (mindestens nachweisbar seit den neolithischen Höhlenbildern von Altamira, Chauves oder Lascaux zwischen 20.000 – 30.000 vor heute) kommt dabei immer noch und immer wieder eine herausragende Rolle zu. Von Anfang diente das Zeichnen neben dem Visualisieren und Festhalten der eigenen Emanationen auch dem Dokumentieren und Verarbeiten des in der Natur Gesehenen und Erlebten, in diesem Zusammenhang wohl auch dem Beschwören und Bannen, ganz allgemein gesprochen eine Art Sich-Aneignen oder Habhaft-Werden der Lebenswelt.

Bis in die Neuzeit hinein konnten Universalgenies wie Leonardo da Vinci, Alexander von Humboldt oder Johann Wolfgang von Goethe ihre Beobachtungen und Forschungsergebnisse noch selbst auf Papier oder Leinwand bannen; später wurden wissenschaftliche Abbildungen mehr und mehr arbeitsteilig niedergelegt. Expeditions- und Ausgrabungszeichner sind seither unverzichtbarer Bestandteil der Teams bei jeder wissenschaftlichen Unternehmung, heutzutage ergänzt durch Fotografen und Filmemacher.

Zeichnen ist Denken mit dem Stift, Zeichnen lässt einen aus der reinen Imagination heraustreten, sozusagen von außerhalb auf die eigene Vorstellung, auf das Innen schauen, Zeichnen ist dabei auch der erste Schritt der reinen Idee in die Realität hinein, diese illustrierend und damit im wahrsten Sinne beleuchtend. In der Wiedergabe des Außen trägt die Zeichnung die Realität, das Gesehene hinüber ins Reich des Analytischen, indem sie das Wesen des zu betrachtenden Objektes herausarbeitet und damit freilegt. Zeichnen präzisiert, abstrahiert, Zeichnen verdichtet, durchdringt, eine Zeichnung knüpft Beziehungen, sie bezeichnet.

In der Reihung wird die Zeichnung zur Sequenz, zum Comicstrip, zu einem zeitbasierten Medium – vergleichbar dem Film, nur eingefroren und damit dem Rezipienten erlaubend, seine eigene Lesegeschwindigkeit zum Grundtakt der Lektüre werden zu lassen. Der Comic bietet mit seiner hohen Informationsdichte durch das entstehende Beziehungsgeflecht zwischen den Panels, mit seinen sich gegenseitig unterstützenden Bild-Text-Relationen und den vielen spezifischen Ausdrucksformen wie der grafischen Übertragung von Bewegungen und Geschwindigkeit (Speedlines) oder von Geräuschen und Musik (Onomatopoesie, Soundwords, Notationen) sowie der Integration aller denkbaren Zeichensysteme (Symbole, Gesten, Zahlen- und Sprachcodes etc.) ein nahezu ideales Medium zur Darstellung komplexer Zusammenhänge und Abläufe.

Das Bild stellt vor, was sonst umständlich formuliert werden muss. Das Bild erhellt, wo man sonst im Dunkeln tappt. Das Bild fokussiert, wo sonst vieles vage bleibt. Während man bisher um Worte rang, macht man sich jetzt ein Bild. Das Einundzwanzigste Jahrhundert wird das Jahrhundert der visuellen, der grafischen Literatur, das Jahrhundert des Comics, des Comics im Allgemeinen und des Wissenschaftscomics im Speziellen.

Jens Harder

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