Der Siamesische Drilling – Literatur, Wissenschaft und Lebenswelt

Literatur braucht keine Wissenschaft, und mit Ausnahme der Literaturwissenschaft, der ewigen nekrophilen Witwe, braucht die Wissenschaft auch keine Literatur. Aber was heißt schon „brauchen“? Frauen brauchen auch keine Männer und umgekehrt, es sei denn, sie denken an Fortpflanzung und Vergnügen. Fruchtbarkeit und Erotik machen das gegenseitige Verhältnis doch spannend, über die Gräben der Ignoranz, Verdächtigungen oder gar latenten Feindseligkeiten hinweg. Und so gesehen, sollten Wissenschaft und Literatur gar nicht ohne einander können.

Dass sie sich kennen müssen, auch wenn sie kaum miteinander können, hat einen nur scheinbar einfachen Grund. Wissenschaft und Literatur werden von Menschen gemacht und diese leben in einer gemeinsamen sozialen Welt. Die gemeinsame Sphäre, an der nicht nur Wissenschaftler und Künstler, sondern alle teilhaben, die so genannte Lebenswelt, ist letztlich aber – darin beruht Edmund Husserls tiefgreifende Entdeckung – allen menschlichen Bemühungen transzendental. Das Erkennen-Wollen und das Erzählen Wollen, unabdingbare Rohformen der Ausdifferenzierung von literarischer Kunst und systematischem Weltwissen, liegen eigentlich in jedem von uns schon beieinander, mal versöhnt, mal im Streit oder Wettbewerb, aber sie sind ständige, unausgesetzt verwendete Elemente der Alltagspraxis, sozusagen vom Frühstück an. Ich muss wissen, wie der neue Eierkocher funktioniert, und ich will erzählen, weshalb ich damit das härteste Ei der Welt gekocht habe … So gesehen muss man also den originären inneren Dialog eigentlich nur auf den höheren und abstrakteren Ebenen der getrennten Instanzen fortführen, die sich aus ihm entwickelt haben.

Wozu genau nun die Wissenschaften die Literatur brauchen können, will ich nicht an Stelle der Wissenschaftler beantworten. Aber einige Nutzanwendungen sind klar, über die Quarks aus Finnegans Wake hinaus, mit denen sich James Joyce ins Herz der Materie schreiben konnte. Das visionäre Potential eines George Orwell oder Aldous Huxley, die intuitive Psychologie eines Schnitzler, die gesellschaftshistorische Erinnerungsleistung eines Tolstoi, Proust oder Döblin sind keineswegs nur für Literaturwissenschaftler interessant, sondern berühren die Gebiete von Geschichtswissenschaft, Psychologie, Politologie, Soziologie. Jedes Kunstwerk und somit auch jedes Sprachkunstwerk, ist Zeugnis für alle am Bild des Menschen interessierten Wissenschaften. Und letztlich sind Wissenschaftler eben Menschen in der Lebenswelt, die aus ganz persönlichen, ästhetischen und psychologischen Gründen Literatur brauchen oder nicht.

Weil die Literatur in der Lebenswelt gemacht wird und auf die Lebenswelt zielt, also zunächst einmal mit den analytischen und narrativen Mitteln der Praxis und des gesunden Menschenverstandes arbeiten kann, braucht sie prima facie keine spezielle Wissenschaft, um Bedeutsames hervorzubringen. Andererseits kann sie schon lange nicht mehr um die Wissenschaft herum, da sie in einer Lebenswelt entsteht die überaus vielfältig und tiefgreifend von wissenschaftlicher Technologie geprägt ist und uns medial, in allen möglichen Formaten, ständig mit wissenschaftlichen Aussagen aus den unterschiedlichsten Fachgebieten konfrontiert oder gar bombardiert.

Was fängt sie nun konkret damit an? Robert Musil sagt: Dichtung vermittelt nicht Wissen und Erkenntnis. Aber: Dichtung benutzt Wissen und Erkenntnis. Und zwar von der inneren Welt natürlich genau so wie von der äußeren. Literatur ist keine Wissenschaft, sondern verwendet Wissenschaften. Zu welchem Zweck? Auf der Hand liegt das instrumentelle, analytische Potential der Wissenschaft. Die Literatur kann mit Erkenntnissen der unterschiedlichsten Disziplinen ihre Sicht der komplexen Gesellschaft, in der wir leben, vertiefen, sie mit genaueren Spektrographen vermessen, ihre technisch-industriellen, aber auch geistigen Grundlagen verstehen. Darüber hinaus kann sie Wissenschaft, insbesondere auch die Sprache der Wissenschaft, ästhetisch nutzen. Jedem wird hier sofort die moderne Lyrik einfallen, aber auch die Prosa kann profitieren.

Camille, diese abgefeimte promovierte Spezialistin, tauchte ihn in die physiologisch perfekt berechnete akustische Nährlösung ihrer Lust wie die Axone ihrer Heuschrecken und Tintenfische. Sie stach ihre Elektroden in seine Reizpunkte, sie vermaß sein Potential. Ihre Natrium-Kalium-Hüftpumpe. Das Flattern ihrer raffinierten semipermeablen Membranen. Die Schnürringe, die sie ihm anlegte, um seine Erregung sprunghaft steigen zu lassen.

So versucht sich der Held in meinem Roman Nabokovs Katze der Neurobiologin anzunähern, der er beim Beischlaf zuzuhören wähnt. Die Kunst hat bisweilen das Privileg, heiter sein zu müssen. Ganz ernsthaft aber kann man eine ganze wissenschaftliche Institution – wie das CERN – zu einem Romanthema machen oder eine prekäre wissenschaftlich-technische Praxis wie das Klonen von Lebewesen, die künstliche Befruchtung, die High-Tech-Forschung in der Rüstungsindustrie und so fort. Für die Geschichte des gespalteten Atoms zum Beispiel, von Hiroshima zu Fukushima, fehlt uns immer noch das eindringliche Sprachkunstwerk. Weshalb wir das gerne hätten, über gelungene Dokumentationen hinaus, berührt auch eine sehr spannende und keineswegs leicht zu beantwortende Frage, nämlich ob die Literatur, abgesehen von ihren narrativen und ästhetischen Potentialen, auch über eine spezielle Form der Erkenntnis verfügt, die nicht so einfach durch fachwissenschaftliche Ergebnisse dargestellt oder übertroffen werden kann.

Letztlich aber treffen Wissenschaft und Literatur dort wieder zusammen, wo sie beide ihren Ausgangspunkt genommen haben, nämlich in der Lebenswelt, in der wir beschäftigt sind, uns ein zeitgenössisches Bild vom Menschen zu machen. Hierzu gehören die Auskünfte der Astronomie über das Weltall, in dem wir leben, der Biologie, über die Zellen, aus denen wir bestehen, der Chemie über unseren industriellen Großstoffwechsel mit der Erde, der Geschichte, über den Weg, den die Menschheit genommen hat, mit seinen von der Psychologie, Politologie, Soziologie erfassbaren Phänomenen. Niemand bestimmt sein Selbstverständnis ausschließlich literarisch oder ausschließlich wissenschaftlich, und beides genügt uns auch in der Addition keineswegs, um zu einem vollständigen Bild zu kommen. Ich denke, dass es gerade dieses existenzielle Bedürfnis nach Reichhaltigkeit ist, das uns immer wieder veranlassen sollte, in aller Bescheidenheit unsere Früchte zusammenzutragen.

Thomas Lehr

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