WISSENSCHAFT UND LITERATUR, in (m)einer Person, und wie es dazu kam

Es soll ein sehr persönliches Statement werden, das ich hier in luftiger Höhe zu Papier bringen will, im Flugzeug, zehn Kilometer über dem Atlantik, Europa hinter mir, vor mir Südamerika, genauer Kolumbien, noch genauer Bogotá. In Gedanken bin ich dem Flieger voraus, sehe schon die Hochfläche vor mir, das begrenzende Gebirge im Osten, die unaufhörlich wachsende Stadt an dessen Fuß. Aber ich schleppe noch einen Gedankenfaden mit mir, der mich mit Innsbruck verbindet, der putzig kleinen Stadt im putzig kleinen Gebirge zu beiden Seiten des Inns. Der Faden muss noch vor der Landung in Bogotá abgeschnitten werden, mit dem Bleistift. Daher schreibe ich.

Als ich das erste Mal nach Bogotá kam, war ich ein junger Mann von 35 Jahren. Und ich kam als Wissenschaftler. Nach sechs Jahren auf dem viele hundert Millionen Jahre lang abgetragenen und zuletzt von tropischem Regenwald überwachsenen Kontinentalsockel Westafrikas bestand mein neuer Auftrag darin, das junge alpenähnliche Faltengebirge am Rand des Pazifiks nach noch unentdeckten Erzlagerstätten zu untersuchen. Nun war ich also an einem jener Orte, von denen ich im Regenwald bisweilen geträumt hatte, unter freiem Himmel, in klarer Luft und Glanz von Gletschern. Das hat mich drei Jahre im Land gehalten. Schön, werden Sie sagen, aber was hat das mit Literatur zu tun? Davon hatte auch ich lange Zeit keine Ahnung. Und doch war die Literatur immer schon da. Es brauchte nur seine Zeit, um sie zu entdecken und eine Freundschaft mit ihr einzugehen, die bis heute anhält.

Die Anfänge dazu lagen in dem Land, auf das ich jetzt zusteuere, ich, der alte Mann von 77 Jahren, der viel als Geologe herumgekommen ist, bevor er Schriftsteller wurde. Der Zufall will es, daß ich genau zu der Zeit des Jahres, in der, 42 Jahre danach, die Gespräche in Innsss ich genau zu der Zeit des Jahres, in der, 42 Jahre danach, die Gespräche in Innsbruck stattfinden werden, in der ersten Maiwoche 1973, von dem Pazifikhafen Buenaventura mit einem kleinen Küstenboot in Richtung Süden aufbrach, durch Lagunen an die Mündung des rio Naya und diesen aufwärts, mit dem Ziel, die unbewohnten, weg- und steglosen Wälder und zuletzt die Kordillere zu überschreiten, hinüber ins bewohnte Tal des Cauca. Gelegentlich beäugt von Menschen mit bernsteinfarbener Haut, die lange vor den europäischen Invasoren da waren, kam ich an unüberwindbare Stromschnellen, von wo ich mit Hilfe schwarzer Träger, Nachkommen entlaufener Sklaven, die sich in diese unwegsamen, vor Verfolgung sicheren Wälder zurückgezogen hatten, bis an den Fuß des Gebirges gelangte. Hier endete die bekannte Welt der Waldbewohner und aus Angst vor dem Unbekannten machten sie sich des nachts heimlich davon. So wurde es zuletzt ein Alleingang unter großen Mühen angesichts oft unüberwindbar scheinender Hindernisse. Der denkbar ungünstigste Ort, um zu schreiben, möchte man glauben, und doch war es hier, in diesen Schluchten und am Rande von Abgründen, dass ich das erste Mal den Bleistift in die Hand nahm, nicht um wissenschaftliche Beobachtungen festzuhalten, sondern Dinge aufzuschreiben, die keinen wissenschaftlichen Wert besaßen, obwohl sie in Summe die überwiegende Mehrheit dessen ausmachten, was mich umgab, beschäftigte, quälte oder mit Glück erfüllte. Ich wurde, ohne dass ich es ahnte, zum Überläufer. Schon in Afrika, in dem letzten, damals noch unberührten, menschenleeren Regenwald der Elfenbeinküste, der heute verschwunden ist, abgeholzt und niedergebrannt wurde, plagte mich bisweilen ein starkes Mitteilungsbedürfnis, erlebte ich es als Verlust, mein Erleben nicht teilen zu können, wenn ich, was nicht selten vorkam, als erster Mensch eine Landschaft betrat, die dalag wie am Tag ihrer Schöpfung, und ich, wie von Gott gerufen, das Privileg genoss, das schauen zu dürfen, Zeuge zu werden, wie es gewesen war, am  achten Tag. Unwillkürlich sprach ich zu mir selbst, aber es waren in Wahrheit Dialoge, mit meiner Frau, die im Basiscamp unsere kleinen Kinder betreute, mit Freunden in der Ferne, die nie verstehen würden, wovon ich sprach, denn um den Regenwald zu verstehen, muss man darin leben. Alles andere bleibt Missverständnis. Doch mir war das Wort abgeschnitten, die Dialoge bewegten sich in meinem Kopf im Kreis. Da gab es kein Ausbrechen. Ich lebte im Zeitalter der Buschtrommel, und auch dazu braucht es Menschen. Ich aber war allein, erlebte die unbeschreibliche Glückhaftigkeit der Freiheit „jenseits der letzten Jägerzeichen“. Doch nun, am rio Naya, unternahm ich den Versuch, meine Umwelt einzufangen, dem Augenblick des Staunens Dauer zu verleihen, auszubrechen aus der Wortlosigkeit der Natur, mich ans Bewusstsein klammernd wie an einen im Meer treibenden Balken, festen Stand zu erreichen, und sei es auf so schwankendem Grund, wie es meine Tagträume und nächtlichen Albträume jener Tage waren. Wie hätte ich damals ahnen können, dass daraus einmal, fünfundzwanzig Jahre später, ein Erzählen, ein Buch werden würde (GAP)? Die wissenschaftlichen Aufzeichnungen jener Jahre sind längst vergessen, haben ihren Wert in dem Augenblick verloren, als sich herausstellte, dassd noch da, so farbig aufblitzend wie der vereinzelte Sonnenstrahl auf dem Flügel eines durch den Regenwald segelnden Morphos.

Wir überfliegen gerade San Juan an der Ostspitze der Insel Puerto Rico. Wolkentürme über dem Meer. Noch vier Flugstunden bis Bogotá. Als was werde ich diesmal dort ankommen? Als Wissenschaftler? Als Schriftsteller? Als alter, suchender Mann? Wir werden einander in Innsbruck sehen, vielleicht weiß ich es dann, und das eine oder andere zum gestellten Thema, Wissenschaft und Literatur.

Peter Steiner

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