Die Quadratur des Wortes

Der berühmteste Versuch, Kunst und Wissenschaft miteinander zu einer Synthese zu verschmelzen, befindet sich vielleicht in Ihrem Portemonnaie: Es ist die Skizze von Leonardo da Vinci, die einen Menschen mit mal geschlossenen, mal gespreizten Gliedern zeigt, eingepasst in einen Kreis und ein Quadrat. Die Abbildung findet sich auf T-Shirts und Krankenkassenkarten und eben auch auf der Rückseite der italienischen Ein-Euro-Münze. Sie nennt sich der vitruvianische Mensch und geht zurück auf ein ästhetisches Ideal, das der römische Archtitekt Vitruvius vor rund 2000 Jahren formulierte. Er nahm an, es müsse möglich sein, die Proportionen eines idealen Menschen sowohl aus einem Kreis als auch einem Quadrat konstruieren zu können.

Leonardo glaubte, die Lösung gefunden zu haben, indem er das Quadrat ein wenig aus dem Zentrum des Kreises herausrückte. Perfekt ist diese Quadratur des Menschen allerdings nicht. Wenn man genauer hinschaut, wirkt der Kopf des Mannes doch etwas zusammengequetscht. Ob sich die vitruvianischen Proportionen in einem realen menschlichen Körper also tatsächlich wiederfinden lassen, bleibe dahingestellt – auf jeden Fall war die Zeichnung der Versuch, einen ästhetischen Aspekt des Lebens mit den Mitteln einer damaligen Basiswissenschaft – der Geometrie – zu beschreiben.

Kunst und Literatur haben mit der Wissenschaft eines gemeinsam: Sie entwerfen Modelle der Wirklichkeit – wenn auch mit sehr unterschiedlichen Vorgaben. Während die Naturwissenschaft, insbesondere die Physik, auf eine Reduktion von Komplexität ausgerichtet ist und die Gültigkeit eines einzigen, letzten Modells annimmt, produzieren Kunst und Literatur munter Vielfalt in der festen Überzeugung, dass jedes Werk für sich Anspruch auf künstlerische Wahrheit erheben kann.

Und das Erstaunliche ist: Beide haben auf ihre Weise recht. Allerdings liegt die Wahrheit – wenn es sie denn gibt – des wissenschaftlichen Weltmodells in seiner Kongruenz zur Wirklichkeit, die Wahrheit der Literatur hingegen in ihrer Kongruenz zum Autor. Es kann also niemals ein endgültiges literarisches Werk im Sinne einer physikalischen Theory of everything geben. Jeder Satz, jedes Wort über die Welt ist zugleich ein Teil der Welt und somit immer vorläufig, gebunden an die Zeit und so flüchtig wie diese. Eine Quadratur des Wortes ist also mehr noch als die des Kreises für alle Zeiten ausgeschlossen.

Gleichwohl können Wissenschaft und Literatur voneinander profitieren. Physiker müssen ihre komplizierten mathematischen Theorien am Ende in Erzählungen verwandeln – wie zum Beispiel die oft und gerne wiedergegebene vom listigen Elektron, das gleichzeitig durch zwei schmale Schlitze flog –, um ihre Gleichungen überhaupt selbst zu verstehen oder sich zumindest ihre Problematik vor Augen zu führen. Schriftsteller wiederum suchen in den fortlaufenden Metamorphosen der menschlichen Komödie ja doch heimlich nach dem einen letzten Prinzip der Humanität, das vielleicht in der Lage wäre, den gordischen Knoten des ewigen Verletzens, Demütigens und Leidens zu durchschlagen.

Doch wie sich aus dieser Suche kein gültiges literaturästhetisches Programm ergibt, so wenig folgt aus Erzählungen ein mathematisches Modell der Wirklichkeit. Die Wechselwirkung zwischen Literatur und Wissenschaft – wenn man sich denn darauf einlässt –, besteht aus Inspiration und Herausforderung, aus dem Spannungspotential, das sich aus ihrer Inkompatibilität ergibt. Denn eines haben sie trotz aller Differenz gemeinsam: Sie beide sind zu ihrer jeweiligen Wahrheit verdammt.

Ulrich Woelk

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