Zu viele Krimis? – Zu wenig!

Kaum ein kritisches Gespräch über die heutige Medienrealität kommt ohne die Klage aus, in TV, Kino und Literatur nähmen Krimis einen immer größeren Raum ein. Die Pedanten unter den Lamentierern rechnen sogar akribisch nach und ermitteln eine jährliche Zahl an medialen Todesopfern; sie landen dabei in so abenteuerlichen wie irrealen Dimensionen, die – wären all die Gemeuchelten nicht fiktiv - der jährlichen Ausrottung einer mittelgroßen Stadt entsprechen würden.

Die Klage darüber glaubt vor allem konstatieren zu können, dass diese Schwemme an Kriminalerzählungen letztlich mit einer zunehmenden Verrohung unseres sozialen Miteinanders und der moralischen Verrottung unseres Menschenbildes einhergeht, und dass dies alles nicht nur Indiz für diese Verrohungstendenz ist, sondern in gleichem Maße zum Verursacher derselben wird. Der Vulgär-Kulturpessimist entwirft dabei ein Bild von Lesern und Zuschauern, das von Sensationsgier und Grusel-Geilheit geprägt ist. Und das ihre Entsprechung in deren ereignislosem, als frustrierend und entfremdend empfunden Alltag in der modernen Gesellschaft haben muss.

Abgesehen davon, dass diese wohlfeile Haltung eine gehörige Portion Hochmut zelebriert – so durchaus berechtigt diese Diskussion ist, ganz so simpel kann sie nicht geführt werden.

Ein zwar nicht zwingendes, aber doch bedenkenswertes Argument ist zunächst einmal, dass der überwältigende Erfolg von Kriminal-Geschichten – wir zählen wachsende Zuschauerzahlen, steigende Auflagen – offenbar ein existentes Bedürfnis reflektiert, d.h. sie werden geschrieben, produziert und gesendet, weil sie vom Publikum mit Interesse wahrgenommen werden. Und das nicht erst in modernen durch-mediatisierten Gesellschaften wie den unseren, sondern schon immer. Dabei möchte ich nicht ausführlicher auf die gewalthaltigen Schilderungen in Vorantike und Antike eingehen, etwa auch im Alten Testament. Auch die großen Klassiker machten schon immer auch das Verbrechen zu ihrem Thema. Was ist Shakespeares Richard III anderes als eine grandiose und gnadenlose – und, ja, auch blutrünstige – Reflexion darüber, wie die Asozialität eines Einzelnen eine Gesellschaft vergiften kann? Was sind Schillers Novelle „Verbrechen aus verlorener Ehre“ und Büchners „Woyzeck“ anderes als die minutiöse Sezierung mörderischer Taten? Gerade den zuletzt genannten Autoren vorzuwerfen, sie wären sich untreu geworden, bedienten mit einer Art Ausflug „ins Populäre“ eher primitive Bedürfnisse und nicht zuletzt die eigene Kasse – das ist albern.

So sehr wir diese Fragen uns nicht zu einfach machen sollten, so wenig sollten wir sie aber auch verkomplizieren. Halten wir einfach fest: Kriminalgeschichten – wie übrigens auch Katastrophen-Geschichten – erzählen Geschichten von Leben und Tod. Und damit reflektieren ihre Fabeln etwas, was den Menschen seit Beginn seiner Geschichte umtreibt, nämlich die beunruhigende Vorstellung davon, dass das eigene Leben – so sehr er sich auch versucht abzusichern – durchaus immer wieder bedroht werden kann. Die Dramaturgie einer Kriminalerzählung korrespondiert dabei mit dem großen Bogen des menschlichen Werden-Sein-Vergehen des Lebens, dessen Prinzip sich innerhalb dieses Bogens auch täglich reproduziert – auch unsere Lebensweg besteht aus einer Abfolge von kleineren, größeren, manchmal tragischen Krisen, die uns zu Bewältungsanstrengungen zwingen. Und die, wenn wir sie bewältigt haben, in die nächste Krise münden … bis zur letzten Krise von Alter, Schwäche, Krankheit und Todeskampf, die zwar nicht mehr bewältigt werden kann, aber dennoch Teil unserer Existenz ist.

Nicht anders geht die Kriminalerzählung vor: Sie exponiert zu Beginn eine leidlich harmonische Grundsituation – platziert dann einen bedrohlichen Konflikt – schildert  vielfältige und windungsreiche Bemühungen, diesen Konflikt zu lösen – und endet mit der Bewältigung und Eliminierung des Konflikts. (Es wäre an dieser Stelle darüber zu spekulieren, warum in der deutschsprachigen Krimi-Philosophie eher eine Art Staatsgläubigkeit vorherrscht, weil für die Wiederherstellung der Harmonie oft beherzte Kommissare, d.h. Staatsdiener, sorgen, wohingegen diese in der Tradition des englisch-amerikanischen und auch französischen 'roman noir' eine eher untergeordnete Rolle  spielen, wenn nicht selten als reichlich zwielichtiges und uneffektives Personal dargestellt werden.)

Weil das Thema einer Kriminalerzählung also eines ist, das jeden Menschen – manchmal kaum wahrnehmbar, manchmal in hoher Intensität – begleitet und berührt, muss es in Literatur, in Film und Drama immer wieder reflektiert werden.

Es gibt also niemals zu viele Kriminalerzählungen, sondern eher zu wenig. Und damit meine ich als Leser und Konsument natürlich: zuwenig gute. In der schier unübersichtlich gewordenen Masse der Krimi-Neuerscheinungen und Kriminalfilmen finden sich leider auch Geschichten, für der schöne alte Begriff „Schund“ gerechtfertigt ist, weil aus ihnen ein spekulativer Zynismus spricht, und deren Autoren vor allem dem Irrtum erliegen, die möglichst blutrünstige Darstellung eines Verbrechens garantiere schon den Erfolg – nach dem Motto „Je Tote, desto Spannung“.
Der Tod aber mag erschüttern, mag tragisch sein – dramatisch ist er nicht. Dramatisch, und damit „spannend“ ist, was ihm vorausgeht und was ihm folgt.

Das Sujet eines guten Krimis beinhaltet zwar Verbrechen und Tod, aber er erzählt in Wirklichkeit vom Leben, vom Kampf um das Leben; ein guter Krimi ist immer auch ein Hohelied auf das Leben, er feiert das Überleben, feiert Treue, Solidaritä, Güte und Weisheit, und oft genug auch – die Liebe.

Robert Hültner

© 2003-2016 Innsbrucker Wochenendgespräche - E-Mail - Impressum