Der Krimi, dieser Stiefel

Ob ich den so genannten Krimiboom erklären kann?

Hier meine Theorie:

Es ist ein Zeitalter der Sorgen und der Schuldgefühle. Auf der einen Seite fürchtet man die Flüchtlingsströme aus dem Süden, auf der anderen hat man Gewissensbisse, wenn schon wieder ein paar hundert Afrikaner jämmerlich im Mittelmeer ertrinken. Hier die Panik vor der Erderwärmung, da die Schuldgefühle wegen eines neuen Autos, einer neuen Tiefkühltruhe, eines neuen Fernsehapparats. Man zittert vor dem Artensterben, dem Dahinschwinden des Regenwalds, vor neuen Tierseuchen, der Überfischung und den ungeheuren Abfallmengen in den Ozeanen, während man sich schuldbewusst mit eingeschweißtem Billigfleisch und Sushi in der Plastikbox versorgt. Eine kollektive Quadratur des Kreises.

Insofern ist es kein Wunder, dass in weiten Teilen der Gesellschaft eine biedermeierliche Haltung um sich greift, auch wenn sie sich auf regelrecht barocke Weise offenbart: Man zieht sich auf sich selbst zurück und schwelgt im täglichen Konsum von Waren, die dem Ausbau der persönlichen Bastionen dienen. Sinnlichkeit und Hedonismus sind gesellschaftlich schon lang geächtet, oberstes Gebot ist die Vernunft, die Rationalität des Körperlichen, Materiellen. Und so zieht man seine Lebensfreude aus der Hoffnung auf eine lange Lebensdauer, die man mit der Anschaffung von Hometrainern, Alarmanlagen, Rauchwarnmeldern und Versicherungen nährt. Zuerst kommt die Gesundheit, dann die Sicherheit (vielleicht ist es auch umgekehrt), dann kommt der Kontostand, und dann kommt lange, lange nichts mehr.

Und was tut der Mensch für seine kleine, sinnentleerte, angst- und schuldgeplagte Seele?

Nun, er reizt und streichelt sie mit fiktionalen, an winzige Elektroschocks gemahnenden Geschichten, die zwar seine innere Spannung widerspiegeln, aber trotzdem kaum etwas mit ihm zu tun haben. Er labt sich an der Überschaubarkeit dieser Erzählungen, die seine Nerven kitzeln, aber nicht zerfetzen, die das Böse zwar thematisieren, aber es zugleich in weite Ferne rücken. Denn im Reich der Dichtung findet das Verbrechen immer nur woanders statt: in einer abgezirkelten, begrenzten Welt, die man als Leser und Betrachter aus der sicheren Vogelschau des Dichters präsentiert bekommt. Hier wird das Böse grundsätzlich erkennbar und beherrschbar: zwei beruhigende und tröstliche, doch leider trügerische Suggestionen.

Das, so meine ich, ist der Grund dafür, dass unsere saturierte westliche Kulturlandschaft seit dreißig Jahren von Krimis überflutet wird.

Ob mich das stört?

Nein, nicht die Quantität (es gibt inzwischen jährlich vier- bis fünftausend deutschsprachige Neuerscheinungen), sehr wohl aber die Qualität. Es ist halt leider ein Naturgesetz, von Karl Kraus so treffend formuliert: Der größte Stiefel hat den höchsten Absatz.

Schon das Unwort Krimi weist (im Gegensatz zum klassischen Begriff des Kriminalromans) auf den trivialen, mehr dem Absatz als der Kunst verpflichteten Charakter dieses Genrestempels hin. Und leider ebenso auf den Charakter vieler Texte, die ihn tragen: Es sind keine Werke, sondern Fabrikate, und sie werden nicht von Schriftstellern geschrieben, sondern von Autoren. Sie sind fast-food, lieblos zubereitet, lau serviert und niemals sättigend. Als Beilage gibt es den unsäglichen Regionalkrimi,zumeist in Anthologien gegossen wie eine Portion Pommes Frites auf einen Pappteller: „Blutiges Innsbruck“, „Tatort Stubaital“, „Mord in Pfaffenhofen“, „Soko Zirl“ …

Dass sich viele Krimis mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Problemen auseinandersetzen, ist ein Feigenblatt, das ihre Nacktheit weniger verhüllt als unterstreicht. Der gute Wille zählt hier sicher nicht als Werk. Im Gegenteil: Wenn der Chef einer grausamen stoppelbärtigen Schlepperbande, der die von Hunger und Krieg gezeichneten Flüchtlingsmädchen als Prostituierte verkauft, nachdem er sie als Drogenkuriere missbraucht hat, und der mit seinen durch Glücksspiel und schmutzige Börsengeschäfte vervielfachten Einnahmen den internationalen Terrorismus und die Pharmalobby unterstützt …, wenn dieser Chef also von einem schrulligen Ermittlerduo hinter Schloss und Riegel gebracht wird, kann man sich als Leser sorglos und beruhigt zurücklehnen: Der kleine Mann, so weiß man dann, ist nicht so machtlos, wie er sich zuweilen fühlt. Das Gute siegt von selbst, im Grunde muss man keinen Finger dafür rühren …

Bei MacDonalds kann man keine Haute Cuisine, im Penny-Markt keine Designerschuhe und im Krimi-Buchregal nur noch vereinzelt Kriminalromane finden, die sich diesen Titel auch verdient haben. Zusehends gehen dem Genre nämlich auch die Schriftsteller verloren, die sich in erster Linie um literarisches Niveau bemühen. Vielleicht ist das ja gut so. Denn ein guter Koch beschränkt sich auch nicht nur auf Chickenburger, er will mehr, als zwischen tausend anderen nach Gold zu graben. Er will Gold erschaffen.

Stefan Slupetzky

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