„Besinnungslos unglücklich“  – Eine Schlagerverteidigung

Dumme Schlager halten es mit Leibnitz und möchten uns die Welt als die „beste aller möglichen Welten“ verkaufen. Nicht ganz so dumme Schlager stimmen philosophisch mit Hegels Fortschrittsmetaphysik überein, dass die Weltgeschichte „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ ist, wodurch diese Schlager zumindest noch eine Utopie von Glück – in der Ferne, in der Heimat, bei seinem Schatz – bereithalten (nach Adorno eh nur „Ersatzglück“).

Die wenigen göttlichen Schlager aber singen den Cioran-Blues „Vom Nachteil, geboren zu sein“, also vom Unglück im Unglück ohne Ersatzbefriedigung. Kein Aufmunitionieren des Glücksmagazins kann diese Barden zum Aufgeben zwingen, denn gerade im Unglück finden sie ihr Glück. Und wir Teilzeit-ExistentialistInnen mit ihnen, die wir unser Glück auch im gezähmten Unglück der Musik suchen und finden. Wer weiß – vielleicht rettet uns das eskapistische Eintauchen in komponierte Melancholie vor den realen Depressionen, die die Zumutungen des  Neoliberalismus für uns bereit halten.

Den als „abgesunkenes Kulturgut“ verrufenen Schlager ernst nehmen heißt ihn auch als Tragödie lesen zu dürfen, heißt dieses vermeintliche Magazin des Glücks auf seine manchmal Tod bringende Munition zu untersuchen. Nehmen wir nur „Wahnsinn“ einen späten Schlager von Roy Black, nehmen wir nur die ersten beiden Zeilen:

Manchmal da beneid ich schon die Sonne, wenn sie zärtlich dein Gesicht berührt.
Nachts wünsch ich mir oft in deinen Armen, dass es draußen nie mehr Morgen wird.“

Da ist ein manisch-depressiver Liebender auf die Sonne eifersüchtig und sehnt sich – ganz in der Tradition der schwarzen Romantik – nach ewiger Nacht, auf dass die Liebste nie mehr seiner Umklammerung entrinnen kann. Das ist nicht mehr pathetisch, sondern schon pathologisch. Und weiter: „Jeder Atemzug und jedes Lächeln, alles, was du bist, will ich für mich, und ich halte dich gefangen mit Gefühlen, und ich sag zu oft zu dir: ich brauche dich.“

Atemberaubend, wie sich der Gefühlsterrorist vom Opfer zum Täter häutet, aber dennoch das Betteln um Liebe nicht lassen kann. Eine im Gesangsgestus grotesk brav, also schlagerkonform gesungene Panikattacke ist das. Der Refrain nimmt es mit jeder Wahnsinnsarie auf: „Wahnsinn! Wahnsinn, dich so rücksichtslos zu lieben. Wahnsinn, dich als einen Teil von mir zu seh’n. Wahnsinn, diese Angst dich zu verlieren, sicher wirst du deshalb einmal geh’n.“ Zum Mord aus vorauseilender Eifersucht klafft hier nur noch „Die Lücke, die der Teufel lässt“ (Alexander Kluge).

Einen Zeugen will ich noch aufrufen – den Musiksoziologen Hans Egon Holthusen. Der schreibt: „Da Schlager kollektive Wachträume sind, gehorchen sie, wie alle Träume, nicht der Logik und Vernunft, sondern Wünschen und Ängsten. Sie tragen ihre Botschaften nur halb bewusst oder gänzlich unbewusst in sonderbaren Verkleidungen und auf Schleichpfaden zwischen Wach- und Traumzustand.“ Hieß das nicht einmal „Surrealismus“?

Fritz Ostermayer

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