Birke, die in einem verlassenen Raum aus dem Boden wächst. © Andrej Krementschouk

Photo: Andrej Krementschouk

Natur

Die Natur in ihrer ganzen Vielfalt ist spätestens seit Jean-Jacques Rousseau Thema in der Literatur. Natur galt lange als Projektionsfläche für das Göttliche, das Heilsame, Facetten der Liebe, der Sehnsucht und des Todes wurden über den Wechsel der Jahreszeiten oder Beschreibungen der Landschaft ausgedrückt. Nicht erst seit Bertolt Brecht, der unter dem Einfluss des Nationalsozialismus ein „Gespräch über Bäume“ als Verbrechen bezeichnete, weil es „ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“ bekam das Schreiben über Natur auch eine politische Dimension. Die Aufrüstung der atomaren Waffen unter dem Einfluss des Kalten Krieges und die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl in den 1980er Jahren machten die bedrohte Natur zum literarischen Thema. Heute in einem Zeitalter der Gentechnik, des Klimawandels und der Biowelle hat das schreibende Nachdenken über Natur und das „Natürliche“ eine neue Dimension bekommen: Traditionslinien werden in diesem Kontext wiederaufgenommen und erneut durchbrochen. Die 36. Innsbrucker Wochenendgespräche stellen Positionen, Schreibweisen und Poetologien der „Natur“ zur Diskussion.

Andreas Neeser konstruiert poetische Wortlandschaften, die Natur und Kultur verbinden. Barbara Aschenwald unternimmt Streifzüge durch die Tiroler Landschaft, spürt dem Ursprünglichen, Mystischen und Hoffnungsvollem in der Natur nach. Peter Simon Altmanns von fernöstlicher Kultur inspirierte Protagnisten erkennen durch die Erfahrung mit der äußeren ihre innere Natur und finden dadurch zu sich selbst. Anja Utler begibt sich in ihren Gedichten auf die Suche nach einer Sprache für die Geräusche und Formen der Natur. Marica Bodrožićs literarische Figuren werden immer wieder voller Sehnsucht an die Sommer in Kroatien, dem Herkunftsland der Autorin erinnert, an das Wesen des Meeres und des Windes – der kroatischen Bora – die sie als Teil ihrer Identität begreifen. Jan Christophersen spürt Naturkatastrophen in Norddeutschland nach, die zum Mythos geworden sind. Michael Donhausers Lyrik ist durch einen feierlichen Zugang zur Natur charakterisiert und strahlt eine Ruhe aus, die heute selten geworden ist. Die Herkunft der Menschheit, ihre Entwicklung vom Tier zum Menschen und die Frage nach dem Ureigenen sind Themen in der Literatur von Sibylle Knauss. Gerhild Steinbuch schreibt in ihren scharf beobachteten Theater- und Prosatexten von der Scheinidylle von Tourismusorten. Ulrike Draesners Lyrik und Prosa handeln von der Ausgesetztheit des Körpers zwischen Natur und Technik und gehen dem Natürlichen und „Unnatürlichen“ nach. Werner Lutz leichtfüßige Gedichtzyklen erzählen von Sehnsüchten, von Zerbrechlichkeiten, von Momenten, die einen sprachlos machen. Hans Platzgumers Protagonisten suchen menschenleere Gebiete, Eiswüsten, nukleare Wüsten auf, suchen in Grenzbereichen der Zivilisation nach Kontakt zur eigenen Natur. Andrej Krementschouks Fotografien aus der Sperrzone von Tschernobyl zeigen die Natur zwischen Bedrohung und Idylle, Menschen, die ihren Alltag zurückerobern und beschreiben deren entschleunigtes und durchaus glückliches Leben in einer vergifteten Welt, die sie selbst gar nicht als solche wahrnehmen. So schließt auch Michel Houellebeques „La carte et le territoire“ mit dem Satz: „Le triomphe de la végétation est total.“

Birgit Holzner & Gabriele Wild

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