Literatur und Wissenschaft

Wenn Literatur darin besteht, Geschichten zu erzählen, Handlungen und Gespräche darzustellen und die Stimme zu einem Lied zu erheben, Wissenschaft es dagegen damit zu tun hat, solche Behauptungen aufzustellen und zu prüfen, die Menschen das Erstaunliche erklären und verständlich machen sollen, so ist damit noch ein wichtiges intellektuelles Projekt nicht benannt: das der Philosophie. Philosophie ist weder Literatur noch Wissenschaft. Sie hat jedoch mit beiden Vorhaben zu tun. Platon erzählt Geschichten und stellt Gespräche dar. Dabei denkt er auch über den Status der Kunst im Staat nach. Aristoteles hat Erklärungsprojekte ins Leben gerufen, die wir heute als Biologie oder vergleichende Politikwissenschaft kennen. Philosophinnen und Philosophen arbeiten in literarischen Formen und reflektieren diese. Manchmal gelingt es ihnen auch, Erklärungsprojekte zu erfinden und damit Einzelwissenschaften zu begründen. Entsprechend sind manche Philosophen wie Kierkegaard und Nietzsche oder Camus und Sartre auch erfolgreiche literarische Autoren. Andere wie Descartes und Leibniz oder Adam Smith, Kant und Marx waren bedeutende Wissenschaftler auf Gebieten wie der Mathematik, der Volkswirtschaftslehre, der physikalischen Kosmologie oder der Sozialwissenschaft.

Doch trotz dieser Verwandtschaften ist die Arbeit in der Philosophie eine andere als die an einer Erzählung oder einer erklärenden Theorie. Das sieht man schon daran, dass es möglich ist, Philosophie zu betreiben, ohne Texte zu schreiben. Sokrates war ein Philosoph, aber er hat nichts geschrieben. Über sein Nachdenken berichten andere, so wie über Buddha oder Jesus von anderen berichtet wird. Es ist sogar behauptet worden, dass das Schweigen ein großes Versprechen der Philosophie ist (von Stanley Cavell). Ein Dichter, der nichts schreibt, der kein Werk hervorbringt, ist dagegen ebenso schwer vorstellbar wie eine Wissenschaftlerin, deren Tätigkeit im Schweigen gipfelt. Philosophie ist nicht immer Arbeit an Texten oder an Erklärungsprojekten. Sie ist häufig ein Nachdenken über das menschliche Leben, eventuell in einer Gemeinschaft, das sich nicht in Werken, die der Nachwelt zu überliefern sind, niederschlagen muss. Philosophie ist eine Tätigkeit, die auf ein Werk zielen kann, aber nicht muss. Wer gut im Philosophieren ist, kann ehrlich und differenziert nachdenken. Das merkt man in seinen Ausführungen oder in Gesprächen. Aber er muss nicht gut im Verfassen von Texten sein. Platon hat in seinem siebten Brief bekanntlich sogar davon abgeraten, die eigenen philosophischen Gedanken schriftlich niederzulegen. Das riefe nur die philologischen Beckmesser auf den Plan und lenke von der Sache der Philosophie ab. Man spricht in der Antike von einem philosophischen Leben. Das ist ein Leben, das in Autarkie stattfinden soll, also von Freiheit gekennzeichnet ist, in die religiöse und politische Autoritäten nicht hineinreden können und die auch durch die Todesfurcht nicht gebrochen werden soll. Diese Freiheit war zu üben, vor allem in Exerzitien der Reflexion. Texte können bei dieser Reflexion helfen, aber sie sind keine notwendige Bedingung für sie. Ich halte dieses Projekt eines philosophischen Lebens als ein Leben in Entscheidungsfreiheit, politischer Freiheit und semantischer Freiheit, die durch Nachdenken gefördert werden müssen, immer noch für aktuell. Deshalb glaube ich, dass in der Philosophie Tätige auf das Gespräch und, wenn sie wirklich nachgedacht haben, das Lehren gegenüber Schülerinnen und Schülern, die widersprechen, angewiesen sind. Beides gehört zur Philosophie viel mehr dazu als das Abfassen so genannter „eigener“ Texte. Eine Dichterin muss dagegen nicht notwendiger Weise Gespräche führen oder wiederborstige Schüler etwas zu lehren versuchen, auch wenn manche zu einer Poetikvorlesung eingeladen werden mag. Trotzdem sprechen wir heute, von Sokrates einmal abgesehen, naturgemäß vor allem über die Philosophen, die ein schriftliches Werk hinterlassen haben. Von allen anderen Philosophen wissen wir, sobald sie einmal gestorben sind, bald nur noch zu wenig. Und um diese Werke hervorzubringen, haben diese Philosophinnen und Philosophen, die dem Platonischen Rat nicht gefolgt sind, an Texten gearbeitet.

Wie in Literatur und Wissenschaft geht es auch in der Philosophie, wenn in ihr geschrieben wird, aber auch im mündlichen Austausch der Lehre und des Gesprächs, um die Suche nach dem richtigen Wort. Ein Physiker des 17. Jahrhunderts mag sich fragen, wie das Volumen und das Gewicht eines Körpers eigentlich zusammenhängen und dabei auf dem Weg zur Entwicklung eines Begriffs der Masse für sein Erklärungsprojekt sein. Eine Romanautorin mag sich fragen, mit welchem Satz sie ihre Geschichte beginnen soll und damit auf dem Weg zum „Ton“ ihrer Geschichte befinden. Und eine philosophische Autorin mag sich fragen, ob die Ausdrücke „glückliches Leben“ und „sinnvolles Leben“ dasselbe oder Verschiedenes bedeuten, um eine normative Entscheidung treffen und rechtfertigen zu können. Obwohl diese Suchen nach dem richtigen Wort äußerlich ähnlich aussehen, geschehen sie, das wird schon in dieser ersten Schilderung deutlich, in verschiedenen Zusammenhängen. Wenn wir in der Literatur einmal die Erzählung herausgreifen, so mag sie uns auch, wie Wissenschaft und Philosophie, etwas verständlich machen, sie mag Einsichten vermitteln. Doch sie tut dies nicht, indem sie erklärende Naturgesetze benennt wie die wissenschaftliche Theorie oder Argumente produziert, wie das philosophische Räsonnement. Höchstens bringen Figuren in einer Erzählung erklärende Theorien und Argumente vor, wie etwa Naphta und Settembrini in Thomas Manns „Zauberberg“. In der Erzählung werden Erklärungen und Argumente benutzt und eingebettet in die Narration.

In der Philosophie dagegen braucht es die Erzählung, wenn man die Voraussetzungen von Argumenten oder Gedanken deutlich machen will. Denn kein Argument und kein Gedanke kommt aus dem Nichts. Es sind ja Menschen, die Gedanken haben und denen Argumente einleuchten. Sie fangen mit bestimmten Voraussetzungen an, wenn sie denken und argumentieren. Oft – und dann wird es philosophisch besonders interessant – leuchten anderen Menschen die Voraussetzungen eines Mitmenschen in dessen Denken und Argumentieren nicht ein. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: den Streit oder die Erzählung. Man kann andere dazu zwingen oder überreden, die eigenen Voraussetzungen zu teilen: dann wird die Sache politisch. Das will ich hier einmal ausklammern. Oder man erzählt davon, wie man zu den eigenen Voraussetzungen gekommen ist. Dann wird die Sache narrativ philosophisch: Die Erzählung wird in den Dienst des Nachdenkens gestellt. So hat es schon Platon gemacht, als der den Mythos von der Welterschaffung im „Timaios“ oder den von der Wiedergeburt im „Staat“ erzählt hat. In diesem Fall dient die Erzählung der Erhellung des philosophischen Gedankenganges, vor allem seiner Voraussetzungen. Wissenschaftler haben solche Erzählungen nicht nötig, weil sie – wenn sie sich nicht gerade in einer Grundlagenkrise befinden (und dann wird es ohnehin philosophisch) – gemeinsame Voraussetzungen teilen, vor allem gemeinsame Laborerfahrungen. Philosophinnen und Philosophen müssen jedoch auch – ähnlich den in der Literatur Tätigen – ihre Lebenserfahrungen ernst nehmen. Und Lebenserfahrungen kann man nicht fixieren. Doch man kann von ihnen erzählen, entweder um eine Erzählung zu schreiben oder um die Voraussetzungen des eigenen Nachdenkens anderen sichtbar zu machen. Im letzten Fall dient die Narration der Philosophie – umgekehrt wie in Thomas Manns „Zauberberg“.

Die Situation in der Philosophie, in der man erzählen muss, weil man bei Voraussetzungen des Denkens angekommen ist, von denen man sich nicht mehr sicher ist, ob sie andere Menschen teilen, erscheint mir die interessanteste. Deshalb versuche ich vor allem aus dieser Situation heraus Philosophie zu betreiben und deshalb muss ich auch erzählen.

Michael Hampe

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