Von Raubkatzen

„Im Tyrrhenischen Meer, Nähe der Stadt Castre, wurde ein Ungeheuer gefangen, das die Gestalt eines über und über mit Schuppen bedeckten Löwen hatte. […] Dieser Löwe besaß eine Stimme wie ein menschliches Wesen. Unter allseitiger Sprachlosigkeit wurde das Ungeheuer in die Stadt gebracht, starb aber, nachdem es seine natürliche Umgebung verloren hatte, bald darauf.“ Das Zitat stammt von dem Pionier der modernen Chirurgie, dem 1510 geborenen Ambroise Paré. Es ist seinem Buch Über Monster und Wunder entnommen, das durch die hybride Mischung charakterisiert ist, die Wissenschaft zu Beginn des 16. Jahrhunderts kennzeichnet: Beobachtung, Anführung sowie Hinterfragen älterer Quellen, Anekdote und Beschreibung.Vorausgehend ist dem allen aber eines: Das Sprachlossein. Sprachlos angesichts des Löwen mit menschlicher Stimme. Sprachlos angesichts der Erscheinungen der göttlichen Natur.

„Tiger, Tiger, hell entfacht / In den Waldungen der Nacht: / Welches Gottes Aug und Hand / Nur dein entsetzlich Gleichmaß band?“, dichtet William Blake mehr als zweihundert Jahre später. Blake, der das Unendliche erfährt. Im Anfang war noch nie das Wort. Literatur aus dem Sprachlossein geboren?

Und könnte es sein, dass Wissenschaft und Literatur Verwandte sind, ihnen gemeinsam als Triebfeder die Sprachlosigkeit ist? Und immer von neuem verschlägt es beiden die Sprache. Es ist eine der Leistungen von Wissenschaft und Literatur, dass die eigene Sprachlosigkeit hrbar für andere wird, dass sie nicht nur hörbar, sondern auch nachvollziehbar und über das rein Nachvollziehbare hinaus geht, etwas über sie eröffnet wird, sogar Erkenntnis gewonnen wird.

Doch wohin führt der jeweilige Impuls, der vom Sprachlossein ausgeht? Er führt bei Literatur und Wissenschaft in verschiedene Textrichtungen. Während Paré etwa einen Katalog anlegt, indem Sublisten die Wunder weiter kategorisieren, versucht Blake durch Fragen die Frage besser zu verstehen. Für Blake ist die Beschreibung ein sakraler Raum, für Paré ist die Beschreibung ein notwendiges Mittel. Blake greift auf die Tricks von Sprache zurück, er arbeitet mit Dichte. Paré zählt die Tricks der Natur auf, er arbeitet mit Fülle. Aber beide, Wissenschaft und Literatur, bedienen sich einer Sprache, um ihrem ersten Sprachlossein Form zu geben. Auf der einen Seite Text wie eine natürliche Umgebung, hell entfacht. Auf der anderen Seite Text wie eine Raubkatze in den Waldungen der Nacht, über und über mit Schuppen bedeckt – Hört seine menschliche Stimme und bringt ihn zurück ins Meer.

Anna-Elisabeth Mayer

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