„Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“

Angesichts der unvorstellbaren Gräuel in der Welt, dem Abschlachten, Aushungern, der Unterdrückung und Entrechtung von Minderheiten, wirkt das Wegschauen der Literatur fast obszön. Für diese laufenden Katastrophen keine, oder noch keine Sprache zu haben, empfinde ich als Qual. Auch wenn ich weiss, dass Sprache nur aus Erfahrung kommt; und diese Erfahrung mir fehlt. Ich bin kein Geschundener und kein Geflüchteter. Als Schreibender möchte ich jedoch kein von aussen an mich herangetragenes Thema akzeptieren, sondern von einem Thema gewählt werden. Literatur ist keine Auftragskunst; ihre Zweckfreiheit ist ein Echo auf ihren Autonomiestatus.
Doch nur wenn man die Verstummten hört, wird man eine Sprache finden für die, die keine haben. Für Autoren von Büchner bis Herta Müller war dies der „innere Auftrag“, den sie ihren prekären politischen Verhältnissen entnahmen.
Unwohlsein empfinde ich, wenn die Welt und das Leiden ausgeblendet werden. Die Beschäftigung mit sich selbst, mit der eigenen Sprache und mit den Bedingungen des eigenen Schreibens ist notwendig, aber sie ist Ausgangspunkt und nicht das Ziel. Ist das Ich geräumig genug, kann es auch Stellvertreter für das ganz Andere sein.
Die globale Zerrüttung hat ihr Echo in den Verwerfungen in unseren Gesellschaften. Man kann die kulturellen Umbrüche, in denen wir stecken, auch verschlafen. Die Schweizerische Gesellschaft, zum Beispiel, ist ethnisch gesehen von einer beeindruckenden Vielfalt. Diese Diversität findet in der Gegenwartsliteratur unseres Landes kaum Niederschlag. Ausser in der Migrationsliteratur, die dem Eindruck einer monokulturellen und monoethnischen Gesellschaft widerspricht. „Migrationsliteratur“ aber ist in sich eine perverse Kategorie: der Begriff reproduziert jene unheilvolle Aufgabentrennung, wonach sich die von aussen kommenden AutorInnen mit dem Anteil der Eingewanderten, die Einheimischen mit den Problemen der  Mehrheitsbevölkerung zu befassen hätte. Das ist literarisches Réduitdenken.
Wenn die Literatur schon nicht politisch sein darf; gesellschaftlich müsste sie sein, um nicht als private schuldig zu werden.

Martin R. Dean

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