Wer sind wir?

Wer sind wir als Schreibende? Und wer sind die Empfänger?
Zu wem sprechen wir, wenn wir schreiben? 
Wer ist adressiert? Wer ist unser Publikum? Und in welcher Position sehen wir uns, 
von der Bühne herab? Als Lehrende und Belehrende? 
Noch immer in der Position jener, die wachrütteln, aufrütteln, entlarven? 
Ideologien, Verblendungszusammenhänge, Konstruktionen, Normen - alles, was wir blind mit der Muttermilch aufgesogen haben und was uns später durch den Alltag und das Leben lenkt. Unsere Art zu urteilen und zu denken: ungefragt empfangen, ungefragt geprägt, noch bevor wir fragen, denken, gehen lernen.  
Jahrzehnte nach den großen Kriegen, Ideologien, Kolonialisierungen und nach dem Holocaust galt es aufzuräumen, ins Gericht zu gehen mit allem, was ein solches Schlachten möglich machte. Gnadenlos aufzureißen die Vorhänge, hinter denen sich die Gespenster versteckten, und die Steine umzudrehen, an denen noch immer dasselbe Übermenschdenken beharrlich klebte.  
Von den ungemütlichen Künstlerinnen, von Autorinnen und Autoren sind wir als Publikum es seither gewohnt, angeschrieen, angeschissen, beschimpft zu werden. Wir - hier - das elende Sack Volk, das noch immer nicht begriffen hat, welche Dispositionen von Gewalt, Herrschaft und Unterdrückung unser Innenfutter ausmacht.  
Es war ein Acting, ein Handeln der Schreibenden. Ein Akt zu Bewegen.
Doch weil wir uns daran gewöhnt haben, und weil es ein bürgerliches Publikum war, das hauptsächlich angeschissen werden sollte, (saß doch hauptsächlich das Bürgertum im Publikum) - weil sich dieses Publikum daran gewöhnt hat, es sogar erwartet, den Spiegel vorgehalten zu bekommen, ist mir dieselbe Geste - heute eine Attitude, der ich mehr und mehr misstraue.
Ich misstraue der Masche - (bürgerliches) Publikum lässt sich beschimpfen und erhält dafür seine Absolution. (Bürgerliches) Publikum lässt sich aufklären über das Elend in der Welt - und hat dann was Sinnvolles getan.
Ich traue dieser Beziehung heute nicht mehr zu, dass die Möglichkeiten des Handelns darin noch ernsthaft verhandelt werden - und damit die Möglichkeiten zur Veränderung.  
Wenn ich voraussetze, dass wir als Künstler, Schreiber, handeln wollen - also verändern.

Wir sind als Schreibende Handelnde
Vorausgesetzt, wir wollen es sein. Handelnde - in der Gegenwart. 
Handelnde, die schreiben - die schreibend handeln.
Worin besteht heute das Handeln unseres Schreibens? 
Welches Handeln legen wir unter - und bieten wir dem Gegenüber - Uns an?
Und wer ist unser Gegenüber? 
Das Handeln der Schreibenden
Ways of acting before writing. 
Wir handeln, indem wir im künstlerischen Prozess Entscheidungen treffen, die politisch sind: 
durch die Auswahl der Themen, die Auswahl der Realitäten, die wir aufsuchen und beleuchten. Durch die Formen, die ihrerseits Tradierer von gesellschaftlichen Konstruktionen und sozialen Gefügen sind - also politische Träger - oder Träger von Politiken. 
Wie denken wir die Familie, wie halten wirs mit den Geschlechtern, welche Konzepte des Ausschlusses verbergen sich in den künstlerischen Formen. Welche Ränder werden geschaffen, welche Geschlossenheiten gebildet?
Es sind die Wege des Handelns als Schreibende - vor allem: über diese Ränder hinauszuweisen.  
Dafür sind wir als Künstler - und als Schreibende, immer mehr mehr auf die Berichte anderer angewiesen, auf Zeugen - wir sind darauf angewiesen, dass sie uns vertrauen. Uns bleibt nichts, als ihnen zu vertrauen. Uns bei der Hand nehmen zu lassen und uns führen zu lassen. 
Und wir wissen, dass die Zeugen im Publikum sitzen. Und die Boten. Und die vielen anderen, die eine globalisierte Welt von allen Seiten zusammenbringt. 
In welche Beziehung treten wir damit heute mit dem Publikum? 
Wie sehen wir unser Publikum? Als eines, das wir länger belehren können sollen müssen?
Was, wenn dieses Publik eines ist, das ins Theater geht, weil es über ein eigenes Wissen verfügt, ein eigenes Vermögen, das sich längst freigekämpft hat - und heute woanders ist - also keine Gruppenanalysen benötigt - sondern über das eigene Wissen hinaus - noch mehr erfahren will, verhandeln will, vom Rest der Welt, auf Augenhöhe. 
Was, wenn das Publikum klüger ist? Wenn das Publikum die Experten sind?
Was, wenn das Publikum nicht mehr ein geschlossenes bürgerliches Publikum ist, sondern endlich ein Publikum der Vielen?! Ein Publikum der vielen Herkünfte, Klassen, Schichten - ein Publikum, das nicht mehr geschlossen adressiert werden kann?
Das Publikum sind auch die Schreibenden, und wir sind auch das Publikum.
Und wir wissen, dass die Gegenwart eine ist, in der uns so viele Kräfte und falsche Politiken spalten und trennen wollen.
Was läge näher, als anfzufangen, uns zusammenzudenken? 
Und daraus ein neues Handeln abzuleiten. Eines, das jetzt nötig ist.  

Maxi Obexer

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