Portrait Norbert Gstrein
Foto: Peter-Andreas Hassiepen

Norbert Gstrein

1961 geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt u.a. den Alfred-Döblin-Preis und den Uwe-Johnson-Preis. Bei Hanser erschienen: Die Winter im Süden (Roman, 2008), Die englischen Jahre (Roman, Neuausgabe 2008), Das Handwerk des Tötens (Roman, Neuausgabe 2010), Die ganze Wahrheit (Roman, 2010), In der Luft (Erzählungen, Neuausgabe 2011), Eine Ahnung vom Anfang (Roman, 2013) und In der freien Welt (Roman, 2016).

Der Tod meines Freundes John in San Francisco ist mir mit wochenlanger Verspätung bekannt geworden, aber die genauen Umstände liegen immer noch im dunkeln. Es war wenige Tage nach seinem einundsechzigsten Geburtstag, ein Zufall wahrscheinlich, und die ersten Berichte in den Online-Ausgaben des San Francisco Chronicle und des Examiner gleichen sich fast aufs Wort, sind hier überschrieben mit „Poet dies inknife attack“, dort mit „Poet knifed to death“, ohne weiter darauf einzugehen, dass er Schriftsteller war. Kaum überraschend lautet die offizielle Version, dass er von einer Gruppe Jugendlicher überfallen und, obwohl er sich nicht zur Wehr gesetzt habe, auf offener Straße niedergestochen worden sei. Er war auf dem Heimweg von einer Abendeinladung im Mission District unterwegs, kurz vor Mitternacht, es gab keine Zeugen, und in der amerikanischen Kriminalstatistik ist er sicher nur ein Toter mehr, insbesondere wenn man bedenkt, dass Oakland auf der anderen Seite der Bucht jahrelang eine sogenannte Hochburg des Verbrechens war und vielleicht immer noch ist. Dabei sticht in seinem Fall eine Besonderheit ins Auge, die der Polizei unmöglich entgangen sein kann.

Aus: In der freien Welt, Hanser 2016

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