Reisen und schreiben

Das Unterwegssein

Neben dem Ziel der Reise, wenn es denn ein solches gibt, ist es besonders der Weg, das Unterwegssein, das mich am Reisen interessiert und inspiriert. Ganz im Sinn von Goethes schönem Satz: »Man reist ja nicht, um anzukommen (sondern um zu reisen).«
Der Zug ist dabei das ideale Fortbewegungsmittel für mich. Man wird kontinuierlich durch eine Landschaft gezogen und kann diese betrachten, sieht also etwas von der Welt. Man kommt vorwärts, aber nicht zu schnell, das heißt langsam genug, damit auch die Seele mitkommt und die Distanz geistig nachvollziehbar bleibt. Anhand der Bahnhöfe kann man sich orientieren; man überquert Staatsgrenzen physisch und nimmt plötzliche oder allmähliche Veränderungen der Umgebung wahr. Man bleibt nicht nur mit der Erdoberfläche, sondern auch mit anderen Menschen in Berührung, entdeckt Facetten der einheimischen Reisekultur und lernt andere Fernreisende kennen. Es ist auch eine sichere, günstige, zuverlässige (da der Weg schon »gebahnt« ist) und umweltschonende Art des Reisens.
Das Reisen im Zug braucht seine Zeit, doch die ist nicht verloren, sondern ein Gewinn für das Sein – und für das Schreiben! Während man durch die Gegend rollt, kann man die Gedanken ziehen lassen und schriftlich festhalten; kann zurück denken an das, was man hinter sich lässt, und sich ausmalen, was einen erwartet. Wie das Schreiben, bei dem man nicht ganz hier und nicht ganz fort ist oder beides zugleich (»lì e là«), ist das Unterwegssein ein Schwebezustand zwischen Erinnerung und Erwartung, zwischen damals und demnächst, da und dort, Sein und Nichtsein: Man ist gewissermaßen nirgendwo und doch ganz präsent im Hier und Jetzt.
Und dann ist da noch dieses Geräusch, dieses Ta-damm, ta-da-damm, das ins Schreiben übergeht, es rhythmisiert und in Gang hält. Die Melodie der Räder auf den Schienen und Schwellen: für mich eines der schönsten Lieder (und ein großartiges Wiegenlied).

Die Veränderung des Bewusstseins

Reisen ist eine bewusstseinsverändernde Droge. Sie wirkt sofort, und je länger man unterwegs ist und sich »in der Fremde« zurechtzufinden versucht, umso tiefer und nachhaltiger wirkt sie. Die Wirkung besteht zunächst darin, dass durch das Verlassen der eigenen Komfortzone, durch die Berührung mit dem Unbekannten automatisch das Bewusstsein geschärft wird. Man beginnt genauer zu sehen, besser zu hören und feiner zu spüren. Intuition und Instinkt werden wichtig(er). Diese Aufmerksamkeit ist wiederum essentiell für das Schreiben. Sie ist die Bedingung, um Kontakt zum Stoff aufzunehmen, aus dem der Text entsteht.
Und dann wirkt jede Reise auch längerfristig. Manchmal langsam, manchmal schockartig verändert sich der Blick auf die Welt. Reisen heißt etwas zu lernen, über Orte, Kulturen, Geschichten, andere Menschen und sich selbst. Es heißt, die eigenen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen und sich einer gewissen Ungewissheit auszusetzen. Beim Reisen will ich mich befremden lassen, mich nicht mehr auskennen (»être dépaysé«). Zugleich suche ich das Verbindende. Darum bleibe ich auch gerne länger an einem Ort: um tiefer zu gehen, besser zu verstehen, die Leute näher kennenzulernen, persönliche Beziehungen aufzubauen.
Letztlich interessiert mich am meisten der Alltag der Menschen in der Ferne. Wie sie leben, wie sie denken, woran sie glauben, was wichtig ist für sie. Von meinen Begegnungen mit Menschen und Orten, meiner »Erfahrung der Welt« (Bouvier) wollte ich in Der Himmel ist grün erzählen. Auch und in erster Linie mir selbst, denn erinnern und schreiben ist nochmals wie reisen: ein Gedankentrip auf dem Vehikel von Gedächtnis, Traum und Fantasie.

Das Leben als Reise

Die bewusstseinsverändernde Wirkung des Reisens lässt sich auf das »normale« Leben übertragen. Es ist eine überall praktizierbare Übung, wach und mit offenen Fragen statt mit vorgefertigten Meinungen durch die Welt zu gehen – auch im eigenen Alltag. Bei meinem momentanen Schreibprojekt geht es um ein solches Reisen im Mikrokosmos. Nicht das Ferne und Exotische steht im Fokus, sondern im Gegenteil die Nähe und das vermeintlich Bekannte.

Die politische Dimension

Auf welche Art man reist und wie man sich unterwegs verhält, ist (wie alles im Leben) mit Verantwortung verbunden; einer Verantwortung ökologischer, aber auch sozialer Art. Ich bin als Reisende nicht nur Publikum, sondern auch Akteurin. Man hinterlässt überall einen Eindruck von sich und wird auch oft als Repräsentantin einer Kultur oder eines Staates gesehen (so wie man auch selbst zu Verallgemeinerungen neigt, à la »die Inder sind so-und-so«). Die Verantwortung zeigt sich auch im Schreiben über Land und Leute. Reiseautoren vermitteln Bilder und können damit bestehende Klischees belegen oder widerlegen. Darin bestand für mich auch eine der Hauptmotivationen beim Schreiben von Der Himmel ist grün: gewisse einseitige, negative, oft medial vermittelte Bilder, die man so hat und die auch ich selbst hatte, etwa von Albanien oder Pakistan, um positive Aspekte zu ergänzen.
In letzter Zeit frage ich mich oft, ob und wie man noch reisen kann. Die konsumistische Art des Reisens (Stichwort #travel), die hemmungslos betrieben und beworben wird, ist eine ökologische Katastrophe. Und dann ist da noch das Thema Flucht. Heute sind viele Menschen unfreiwillig unterwegs; sie riskieren auf ihrer Reise das Leben und sehen ihre Heimat vielleicht nie wieder. Wir Reichen jedoch können uns durch das Reisen »bereichern«, unseren »Horizont erweitern«; für uns ist es ein Abenteuer, ein Spass und bedeutet Freiheit. Kann man diese Ungerechtigkeit einfach ignorieren? Oder wie soll man damit umgehen?

Manuela Di Franco

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