Reise aus der Zeit

Das Reisen ist der Fluch unseres Berufs. Das Ideal wäre die Zurückgezogenheit, Ruhe, Kontemplation. Tatsächlich wird die physische Präsenz immer wichtiger. Buchmessen, Lesungen. Schreibstipendien. Das sind die schlimmsten. Wo war ich nicht überall: ein halbes Jahr Berlin, ein halbes Jahr Stuttgart, ein halbes Jahr London, ein halbes Jahr Rom, drei Monate Venedig, Engadin, am Vierwaldstättersee, wieder Berlin und nochmal Berlin ... Das klingt zugegeben alles nett, nur bin ich ja nicht auf Urlaub. Ich soll dort schreiben, dafür werde ich bezahlt. Nicht sehr gut bezahlt, man kommt gerade so über die Runden. Immerhin. Deshalb habe ich mich auch beworben. Nur wovon lebe ich danach, wenn ich kein neues Buch habe? Also wird geschrieben auf Teufel komm raus. Malen Sie sich das mal aus, da sitzen Sie im süssen Rom, im abenteuerlichen Londoner East End, in der Kastanienallee am Prenzlberg und dürfen nicht raus. Weil die Zeit drängt. Mehr noch aber, weil die Wirklichkeit da draussen so erschlagend ist und der Stoff im Kopf idoch so zart und flüchtig.

Denn auch Schreiben heisst ja Reisen, auch schreibend erobert man sich eine Welt. Nur eben eine andere. Klar, könnte man über London, Rom, Venedig schreiben ... Doch seine Stoffe sucht man sich nicht aus. Die überfallen einen hinterrücks. Ich war sechzehn und plante meine erste Reise ohne Eltern, Griechenland. Mein Vater nahm mich zur Seite. «Hüte dich vor den Hafenkneipen von Piräus. Da wirst du freundlich eingewinkt, trinkst ein Wasser, plauderst mit einer Dame, die auch ein Wasser trinkt, und fragst du nach der Rechnung, sollst du zweihundert Dollar für Champagner blechen.» Schreiben geht genauso: Da winkt ein netter, harmloser Stoff, endlich etwas Fröhlichkeit, doch kaum hast du dich darauf eingelassen ...

Egal. Inzwischen lebe ich mit Frau und Kindern auf dem Land. In einem viele hundert Jahre alten Haus. Die stehen hier so rum und verfallen. Wir haben gleich noch ein zweites gekauft, damit man uns besuchen kann. Das Tal, die Menschen (die hier Romanisch sprechen), das Erbe unserer vier Wände, das ist die schönste Reise überhaupt. Eine Zeitreise, oder besser eine Reise aus der Zeit hinaus. Berge, Wälder, Hirsche und diese ururalten Wände, alles noch von Hand gehauenen, gehobelt, gezimmert. Hier fühlt man Ewigkeit, und wie klein ich Mensch doch bin.

Das tut gut. Hier bleiben wir. Hier muss nichts sein. Hier ist es gut, egal, was ist. Sollen doch die anderen reisen. Übrigens, die Val Müstair liegt gar nicht weit von Innsbruck. Doch Achtung, wenn ihr uns besucht: die Versuchung zu bleiben ist enorm.

Tim Krohn

© 2003-2019 Innsbrucker Wochenendgespräche - E-Mail - Impressum - Datenschutz

Facebook logo with linkInstagram logo with link