Weitere Welten

Auf Reisen ist das Leben unendlich, sagt Reisegenosse Schneider. Ich weiß nicht mehr, wo wir sind, als er das sagt. Vielleicht sind wir auf dem Kongo, den wir vier Wochen hinunterschippern auf einem fragwürdigen Boot, von Kisangani nach Kinshasa, Heart of Darkness in umgekehrter Richtung, es ist 2006, nach dem ersten Wahlgang zwischen Kabila und Bemba, die von großen Wahlplakaten sinister hinablächeln auf das fragile bißchen Frieden. Vielleicht sind wir in Nordkorea, 2007, wo wir gegen hyänisches Gelächter kämpfen, als wir im Mausoleum des ausgestopften Großen Führers eine Windschleuse passieren, auf daß dem Besucher der irdische Profanstaub abgeblasen wird, und auf einer Autobahn ohne Abfahrten oder Autos Fußball spielen.

Auf Reisen nimmt man alles hin, sagt Elias Canetti, die Empörung bleibt zu Haus. Man schaut, man hört, man ist über das Furchtbarste begeistert, weil es neu ist. Gute Reisende sind herzlos.

Letztendlich ist mir scheißegal, wohin ich gehe, sagt Andrea, es ist mir wichtig, mit wem ich das tue. Er sagt das in unserem ersten Skype-Gespräch. Knapp eineinhalb Jahre später graben wir unsere Zelte in den Crean-Gletscher Südgeorgiens, eineinhalb Jahre habe ich mit Zähnen und Klauen um diese Expedition gekämpft. Als wir Elephant Island ansegelten, bei weit mehr als 12 Beaufort, als die Gischt im Flug gefror und ich mich unter den Böen zu Boden warf, um nicht von der Wucht des Orkans von Deck gewischt zu werden, war das Leben unendlich. Als wir uns in der Morgensonne aus unseren Zelten schälen und mit heißem Kakao in Händen in die leeren antarktischen Weiten blicken, verstehe ich, daß Andrea recht hat.

Men go out into the void spaces of the world for various reasons, sagt Shackleton. Some are actuated simply by the love of adventure, some have the keen thirst for scientific knowledge, and others are drawn by the lure of „little voices“, the mysterious fascination of the unknown. Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen ist, wie ich mit meinen Puppen „Huckleberry Finn“ spiele und sie auf Zugdächern reisen lasse. Ich habe die little voices immer gehört. Es war 2001, als ich in Kambodscha endlich auf einem Zugdach saß.

Ich wandere viel. Ich wandere in den Alpen, in Zanskar, in Westpapua, im Tschad. Ich liebe die Pässe, nicht die Gipfel. Hinter jedem Paß liegt eine neue Welt. Hinter jeder neuen Welt liegt eine weitere Welt.

Something hidden. Go and find it. Go and look behind the Ranges—Something lost behind the Ranges. Lost and waiting for you. Go! Sagt Rudyard Kipling.

Wer im Schwarzwald nichts erlebt, sagt Schneider, wird auch aus dem Kongo nichts zu erzählen haben. 2014 wanderte ich vier Wochen in den Alpen, danach drei Wochen im Himalaja, in den Alpen erlebte ich mehr.

Ob die Menschen in Deutschland glücklich seien, fragt M. Ich bin von Hamburg nach Shanghai unterwegs, 2010, überland, per Bahn, soweit vorhanden, via Balkan, Türkei, Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Kasachstan, quer durch China. Diese Frage wird mir unterwegs fünf- oder sechsmal gestellt. Vielleicht, sagt M., werden meine Kinder Freiheit haben, oder meine Enkel, in zwanzig oder dreißig Jahren. Er selbst und seine Freunde, drei Jungs, ein Mädchen, sind eher zwanzig als dreißig. Wir sind vom Aufstieg verschwitzt. Hier oben lauschen nur noch Stein und Geröll unseren Gesprächen. Wir alle lieben unser Land, sagt M., und wir alle wollen nur raus hier. Wir leben wie unter Hitler, wie in Nordkorea. Bevor wir uns verabschieden, machen wir ein Gruppenfoto, zur Erinnerung. M. steht an der Kamera, Say „Ahmedinedschad“ and smile, sagt er, als er den Auslöser drückt. Unter uns, gerahmt von den Hängen des steilen Tals, gehen in einem weichgezeichneten Ausschnitt Teherans die ersten Lichter an.

Ich habe diese Frage fünf- oder sechsmal nicht beantwortet. Ich wäre geneigt gewesen zu sagen, sie wissen nicht, wie glücklich sie sind; wüßten wir es, wir würden unter unserem permanenten Jubelgeschrei ertauben. Aber ich reise nicht, um meine Meinungen in die Welt zu tragen, sondern um mir ein paar neue und womöglich bessere zuzulegen.

Tina Uebel

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