Das Paradoxon der Fotografie

«Das Fotografieren ist eine niederträchtige Leidenschaft, von welcher alle Erdteile und alle Bevölkerungsschichten erfasst sind, eine Krankheit, von welcher die ganze Menschheit befallen ist und von der sie nie mehr geheilt werden kann. Der Erfinder der fotografischen Kunst ist der Erfinder der menschenfeindlichsten aller Künste. Ihm verdanken wir die endgültige Verzerrung der Natur und des in ihr existierenden Menschen zu ihrer und seiner perversen Fratze. Ich habe noch auf keiner Fotografie einen natürlichen und das heißt, einen wahren und wirklichen Menschen gesehen, wie ich noch auf keiner Fotografie eine wahre und wirkliche Natur gesehen habe. Die Fotografie ist das größte Unglück des 20. Jahrhunderts.»

Der hier spricht – man erkennt es vielleicht am Stilmittel der Übertreibung –, ist die Hauptfigur des Romans «Auslöschung. Ein Zerfall» von Thomas Bernhard. «Auslöschung ist der Titel einer Niederschrift, die Franz-Josef Murau in seinem letzten Lebensjahr in Rom verfasst hat und die Thomas Bernhard zugänglich macht», heisst es lapidar und erzähltechnisch raffiniert im Klappentext des letzten Romans (erschienen 1988) des österreichischen Schriftstellers. Ein Telegramm, das Murau über den plötzlichen Unfalltod seiner Eltern und seines Bruders informiert, sowie drei banale Fotografien (Familienschnappschüsse) genügen, um einen Erinnerungsstrom von über 700 Seiten über ein – wie könnte es bei Thomas Bernhard anders sein – verhasstes Familiengeflecht in der österreichischen Provinz (Wolfsegg) auszulösen.

Es ist sicherlich kein Zufall, dass Thomas Bernhard den erzählerischen Kunstgriff der Fotografiebetrachtung als Anker für den Bewusstseinsstrom der Erinnerung wählt. Er schreibt dem Medium Fotografie literarisch jene Eigenschaft zu, die vor ihm bereits viele Schriftsteller fasziniert hat: die Fähigkeit der fotografischen Bilder, Erinnerung und Wirklichkeit auf eine ganz spezifische Art zu speichern. Traditionell verleihen wir Fotografien aufgrund ihrer indexikalischen Eigenschaften, gewissermassen als Abdruck von Realität, so etwas wie Authentizität. Fotografien sind in unserem Alltagsgebrauch wirklichkeitsbezeugende Abbilder des real Existierenden. Betrachten wir die Sache jedoch genauer, so wissen wir natürlich, dass Fotografien nicht nur Abbilder, sondern vor allem mediale Konstrukte sind, die sich ihrerseits auf Vorbilder beziehen. Aby Warburg spricht vom «Nachleben der Bilder». Genau dieses Paradoxon beschreibt Thomas Bernhard, wenn auch vielfach gebrochen, ins hyperbolisch Negative gewendet und literarisch überhöht. Fotografien sind für Murau – und damit für die Leserinnen und Leser – zwar Erinnerungsspeicher, aber ihre eigentliche Bedeutung gewinnen sie nicht durch ihre Abbildfunktion, sondern erst durch die subjektive Interpretation und Deutung durch das betrachtende Subjekt. Oder noch radikaler formuliert: Erst der subjektive Blick der Betrachterin / des Betrachters konstituiert das Bild und seine vielfältigen Wirkungen.

Als Künstler, der fotografische Bilder erzeugt, analysiert und vorhandene Bilder neu montiert, bin ich seit jeher fasziniert von dieser produktiven Ambivalenz des fotografischen Mediums. Mein letztes Buchprojekt, das gemeinsam mit dem französischen Künstler und Ergonomen Pierre Rabardel (1945–2021) entstanden ist, hat uns nicht zufällig auf das Feld des Schreibens und seine vielfältigen Wechselwirkungen mit der Produktion und Rezeption von Bildern geführt. «HK Destins / Schicksale» ist zugleich eine literarische Suche und eine fotografische Zeitreise auf den Spuren von Heinrich König (1886–1943), geboren in Weitmar bei Bochum, Zeitzeuge, Akteur und Opfer der beiden Weltkriege, Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, im Exil schliesslich «gefallen für Frankreich». Aus dem minutiös über vier Jahre lang gesammelten Material und Bildern von Reisen an die Orte des Geschehens haben wir ein Buch und eine Ausstellung kreiert, die neue Bild-Text-Relationen literarisch zu erfassen versuchen. Meine Lesung im Rahmen der Innsbrucker Wochenendgespräche beruht auf Auszügen aus dem ersten Kapitel des Buches, begleitet von einer Projekten von Bildern.

Arno Gisinger

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